Wenn Absicht zum Beweis wird: Ein Fall über Sorgerecht, Moral und die Grenze richterlicher Wahrnehmung
Ein analytischer Beitrag aus der Praxis des Familienrechts.
von Evangelos Trimmis
Ein Vater beantragt das alleinige Sorgerecht für seine beiden minderjährigen Töchter.
Er befindet sich zu diesem Zeitpunkt in Haft.
Seine Begründung: Die Mutter, Etleva K., sei für die Erziehung ungeeignet; seine eigene Mutter könne die Kinder betreuen.
Formell ist dieser Antrag zulässig.
Materiell jedoch stellt sich rasch die Frage, welches Ziel er verfolgt.
Der Vater will nicht erziehen, und er will nicht übernehmen.
Er will verfügen – und zwar über ein Rechtsinstrument, das ihm im Strafvollzug Vorteile bringen könnte.
I. Die Form des Rechts und die Wirklichkeit des Menschen
Das Recht prüft Tatbestände, nicht Absichten.
Ein Antrag, der die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, ist zu behandeln.
Doch jedes Verfahren lebt von einer unausgesprochenen Erwartung:
Dass ein Rechtsbegehren seinem Zweck entspricht.
Wenn diese Übereinstimmung fehlt, bleibt oft nur die Form – ohne Inhalt.
II. Die Mutter: gelebte Verantwortung
Die Mutter lebt mit ihren Kindern.
Sie trägt ihren Alltag, ihre Schwierigkeiten, ihre Nähe, ihre Selbstverständlichkeit.
Sie hat keine Strategie – sie hat nur Wirklichkeit.
Gegen sie stehen moralische Vorwürfe, familiäre Spannungen und Gerüchte, nicht selten gegen Frauen gerichtet.
Nichts davon ist rechtlich erheblich – aber alles davon ist sozial wirksam.
Das Gericht sieht zwei Eltern.
Doch tatsächlich begegnen sich hier zwei Formen der Realität:
die behauptete und die gelebte.
III. Der Moment, in dem Absicht sichtbar wird
Während der Anhörung verschiebt sich die Wahrnehmung.
Der Vater erinnert sich nicht an die Geburtstage seiner Töchter.
Er weiß nicht, wann er sie zuletzt gesehen hat.
Er spricht von Verantwortung – ohne jeden Bezug zum realen Leben der Kinder.
Dann fällt eine sachliche, beinahe neutrale Frage:
„Hätte eine Entscheidung über das Sorgerecht Auswirkungen auf Ihre Haftbedingungen?“
Der gegnerische Anwalt erhebt Einspruch.
Ich ziehe die Frage zurück — denn zu diesem Zeitpunkt hat das Verfahren bereits geantwortet.
Von diesem Moment an ist für alle Beteiligten klar:
Hier wird das Recht nicht gesucht.
Hier wird das Recht instrumentalisiert.
IV. Wenn Absicht zum Beweis wird
Ein Antrag kann korrekt formuliert und dennoch substanzlos sein.
Nicht weil seine Elemente fehlen – sondern weil seine Richtung falsch ist.
Das Gericht erkennt:
Es geht nicht um das Kindeswohl, nicht um die Bindung, nicht um die elterliche Verantwortung.
Es geht um einen strategischen Vorteil, der mit dem Leben der Kinder legitimiert werden soll.
Hier endet der Raum des Paragraphen –
und beginnt der Raum der richterlichen Wahrnehmung.
V. Die Entscheidung
Das Gericht lehnt den Antrag ab.
Die Begründung bleibt nüchtern: fehlende Beziehung, mangelnde Glaubwürdigkeit, unklare Motivation.
Doch tatsächlich vollzieht sich etwas Tieferes:
Aristoteles’ ἐπιείκεια — die Korrektur des Gesetzes dort, wo es wegen seiner Allgemeinheit versagt.
Denn Gerechtigkeit ist nicht das Wiederholen einer Regel,
sondern die Wiederherstellung ihres Sinns.
Bibliographie
- Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch V – zur Lehre der ἐπιείκεια.
- Thomas von Aquin: Summa Theologiae, II–II, Q. 43 – zur „recta intentio“.
- EGMR, Art. 8 EMRK – Rechtsprechung zum Schutz des Familienlebens.
- UN-Kinderrechtskonvention – Grundsätze des Kindeswohls.
- Albanian Family Code – Regelungen zur elterlichen Sorge.
- Comparative Family Law Studies – Modelle elterlicher Verantwortung in Europa.
- Berufserfahrung des Autors als Rechtsvertreter von Etleva K. in diesem Verfahren.
